von Ulf Lehmann, Herzberg
Sommer 1988. Ich war fünfzehn, ich war in der FDJ und die Welt war in Ordnung. Doch irgendetwas passierte hier. Sollte es wirklich wahr sein, dass unsere FDJ all die Stars nach Berlin locken konnte, in unserer kleinen devisenschwachen DDR? Sicher, Udo Lindenberg war 1983 im Palast der Republik. Er spielte vor Blauhemden und Nachwuchskadern. Doch das „Mädchen aus Ostberlin“ hatte man ihm nicht verziehen. Die geplante Tournee fiel ins Wasser. Für die erhaltene Abfuhr bedankte er sich dann ja auch brav auf seine Art mit seinem „Sonderzug nach Pankow“. Das Lied wurde verboten, selbst das Summen. Wir scherten uns wenig darum, wir, die so freie deutsche Jugend dieser Deutschen Demokratischen Republik.

Aber es tat sich etwas. Plötzlich spielte Bob Dylan mit Tom Petty und den Heartbreakers als Vorband in Berlin, ebenso Joe Cocker. Ich persönlich hörte die Stones, Deep Purple und natürlich den Boss: Bruce Springsteen. Sein Album „Born in the USA“ erschien sogar 1986/87 bei Amiga. Es kam das Gerücht auf, Springsteen spiele in Berlin, in Ost-Berlin!
Was jetzt? Was muss ich tun, um Karten zu bekommen? Wo gibt es eigentlich Karten? Spielt der wirklich auch im Osten? Ja, er spielt! Karten gibt es über die FDJ-Kreisleitungen. Auch in Herzberg? Auch in Herzberg, natürlich nur für Mitglieder! Nun gut, ich war ja Mitglied. Also ab ins Haus der Kultur, die Marxsche Villa, und nachfragen.
„Ja, das könnte klappen. Bringt mal eure Ausweise mit, damit wir sehen, dass ihr auch regelmäßig Beitrag bezahlt habt.“ Oh weh! Natürlich haben wir unsere Beiträge bezahlt. Doch wo ist eigentlich dieser bescheuerte Ausweis? Ich war fünfzehn und in Bezug auf Ordnung eine Schlampe. Gut, den Ausweis habe ich noch gefunden. Für das erste Jahr waren sogar die Beitragsmarken eingeklebt. Doch dann: leere Seiten. Also der Weg zum Kassierer. „Sag mal, hast du noch Marken? Ach, hast du nicht. Hm.“
Also Möglichkeit Nummer zwei: der Weg zu zwei ordentlichen Mitschülerinnen. „Könnte ich aus deinem Ausweis einige wenige Beitragsmarken rauslösen? Ich brauche die nämlich dringend. Du bekommst sie auch wieder. Ach, bekomme ich nicht?!“ Wie kann man nur so ordentlich sein und seinen Ausweis für eine Schlampe wie mich nicht fleddern!

Was nun? Meine Erinnerung ist lückenhaft. Wahrscheinlich besorgten mein Bruder und seine Freundin Marken. Sie hatten ja dasselbe Problem. Außerdem reichte ja ein vollständiger Satz für alle. Man musste sie halt nur umkleben und einzeln zur Kreisleitung gehen. Einige hatten auch die Nerven, die einzelnen Monate mit „Beitrag bezahlt" handschriftlich abzuzeichnen. In der Mangelverwaltung der DDR fiel das kaum auf.
Und Springsteen kam wirklich! Wir hatten Karten und so fuhren mein Bruder, seine Freundin und ich am 19. Juli 1988 nach Berlin. Bevor wir auf das Gelände der Radrennbahn in Weißensee gingen, bummelten wir noch durch die Innenstadt. Nie werde ich die Ansammlungen von „Langhaarigen“ auf dem Alex vergessen. Die saßen auf der Erde und tranken Bier. Es war eine irre Stimmung. Irgendwann liefen wir zum Gelände. Die Richtung war auch für uns Kleinstädter klar: immer den Massen nach. Die Straßen füllten sich. Überall Uniformierte und Toniwagen. Auf den Telefonzellen sah ich Videokameras und schließlich kamen Absperrzäune ähnlich den heutigen Bauzäunen.
Das Gedränge wurde immer dichter. Immer wieder griff ich nervös zur Eintrittskarte und versuchte, die anderen nicht aus den Augen zu verlieren. Wir mussten zusammenbleiben: mein Bruder, seine Freundin und ich, der Fünfzehnjährige. Natürlich! Hoffentlich! Zwanzig Meter Geschiebe weiter war ich allein. War ich wirklich allein? Nein! Wir waren eine Gemeinschaft. Wir waren die Freie Deutsche Jugend. Es ging auf einmal sehr schnell. Absperrungen brachen, Massen strömten und ich war froh, dass ich meine Karte noch ordnungsgemäß entwerten lassen konnte. Irgendetwas lief hier aus dem Ruder.
Letztendlich sollen 160 000 Menschen beim Konzert gewesen sein. Ich traf zu viele, die ohne Karte drin waren. Wir werden nicht mehr klären können, wie viele damals wirklich „Born in the USA“ hören und – im Gegensatz zu heute – vielleicht auch leben wollten.
Also weiter im Gedränge. Die Bühne war zu erkennen, die Richtung also klar. An einem Punkt ging es nicht mehr weiter. Ich versuchte, mich mit meinem Platz zu arrangieren, und stellte fest, dass ich dieses Hin- und Herwogen nicht lange aushalten würde. Ein freies Blickfeld zur Bühne gab es sowieso nicht. Die Umstände fügten es, dass sich einige Fischköpfe meiner annahmen. Die Typen waren groß, stark und wie der sprichwörtliche Fels in der Brandung. Ich war nicht allein. In ihrer Obhut hatten die Mecklenburger noch jemanden, der nicht allein war. Ein Mädchen, etwa in meinem Alter. Ich muss nicht betonen, dass sie natürlich wunderschön war. Nein, ich habe mich nicht verliebt. Es war nichts und es war schön. Eine Horde Langmähniger, ein Mädchen und ich, und wir alle beim Boss. Unsere Beschützer gaben uns von ihrem flaschenweise mitgebrachten Wein ab, das Mädchen verteilte Schokolade und ich strahlte.
Während ich diesen Artikel schrieb und einiges noch mal nachlas, bin ich darauf gestoßen, dass Katarina Witt die Moderation übernommen hatte und furchtbar „ausgebuuuht“ wurde. Ich weiß das nicht mehr. Hingegen werde ich nie vergessen, wie die Ordnungskräfte im Blauhemd versuchten, einen der nicht blaubehemdeten Fans von einem Gestell herunterzuholen. Die Blauhemden haben wir aus Leibeskräften ausgepfiffen und unsere Meinung über die FDJ lautstark artikuliert. Als der Typ hoch oben über den Apparatschiks seinen Personalausweis herausholte, dem Publikum zeigte und in die Massen warf, stieg in mir ein Gefühl auf, das ich erst bei den Bildern aus Leipzig 1989 wieder erlebte und noch heute erlebe.
Bruce Springsteen and the E-Street Band. Ich kann es nicht vergessen, obwohl ich vom Ablauf des Konzertes so viel vergessen habe. Erhalten gebliebene Bruchstücke sind für mich die Textunsicherheit des Publikums bei „The River“, als Springsteen immer wieder helfen musste, und die Coverversion des Beatles-Titels „Twist and Shout“. Die Zeit verging. Doch sollte ich gehen? Etwa früher gehen? Gewiss, wir hatten eine Zeit ausgemacht. Doch war meinem Bruder klar, dass wir beim Boss waren? Als ich am Trabbi ankam, warteten mein Bruder und dessen Freundin schon längere Zeit. Sie hörten den Konzertschluss bei DT64. Ich bekam eine ordentliche Standpauke und wir fuhren zurück nach Hause.
Ich hatte tatsächlich Bruce Springsteen gesehen, jedenfalls fast, aber auf jeden Fall live gehört. Natürlich ohne Blauhemd.