In Neunaundorf wurde ein Mensch hingerichtet

Recherche eines Verbrechens

Was passierte in Herzberg am 7. Februar?

 

1. Den ersten Hinweis lieferte der Cottbusser Autor Gert Schlue, der auch in Alt-HZ aufwuchs.

Er schrieb über seine Tante Lisa: „Noch unbehaglicher wurde ihr zu Mute, als eines Tages ein Polizeihauptmann prahlte, er habe in Neunaundorf auf dem Dorfanger der Strangulierung eines 

 


 Polen beigewohnt, ja diesen vom Stuhl gestoßen, nachdem ihm die Schlinge um den Hals gelegt worden sei. Der Mann habe ein Verhältnis mit einer Deutschen gehabt.“ Das Buch von Schlue erschien 2003. Diese kurze Episode geriet in Vergessenheit. Fast.  

2. Der zweite Hinweis kam 2014 von Irmgard Straach aus Alt-Herzberg bei einem Kaffeekränzchen. Ich fragte, ob sie Gert Schlue kenne. Sie verneinte. Er habe mal etwas über eine Hinrichtung geschrieben, sagte ich. Sie hielt inne: „Ja das stimmt. Die Ukrainerin vom Nachbarn musste da hin. Alle Zwangsarbeiter wurden zusammengetrommelt, und sie mussten an dem aufgehängten Polen vorbeimarschieren.“ Noch am gleichen Tag rief ich Gert Schlue an: „Ihre Geschichte ist tatsächlich wahr!“ „Was haben Sie denn gedacht“, seine Antwort. Er sagte, der Polizist, der die Hinrichtung vollzogen hatte, war der Chef der Kreismeldestelle in Herzberg. Im Adressbuch des Kreises Schweinitz von 1934 wurde der Leiter der Meldestelle und Kreis-Ordnungspolizei namentlich vermerkt: Karl D.

3. Der dritte Hinweis kam aus Neunaundorf. Ich rief eine alte Dame an, die mir als Zeitzeugin empfohlen wurde. Ich frage, ob sie etwas wisse. Sie sagte: „Nein“. „Ein Pole“, sagte ich. Sie verneinte. „Er wurde hingerichtet“, Wieder die gleiche Reaktion. „In Neunaundorf“, fuhr ich fort. Wieder Verneinen. Ich sagte: „Mitten auf dem Dorfplatz wurde er aufgehängt“. Ungehalten schimpfte sie los: „So ein Unsinn! Das war doch nicht auf dem Dorfanger, sondern bei Heino Oecknigk im Garten.“ Hoppla! Ruhe auf beiden Seiten des Telefons. Ich bedankte mich.

4. Den vierten Hinweis lieferte Karl Meier aus Münster, der erste und bisher einzige Augenzeuge. Geboren 1932 lernte er den Gendarmerie-Hauptwachmeister und Chef des Kreismeldestelle Karl D. noch persönlich kennen. Als Pimpf sah er die Hinrichtung mit eigenen Augen. „Ein großes Volksspektakel!“ – sein Kommentar. In welchem Jahr genau, erinnerte er sich nicht. 1952 hatte er Herzberg in Richtung Westen verlassen. Er ist der Onkel von Dr. Olaf Meier.

5. Der fünfte Hinweis kam vom Historiker Dr. Sebastian Rick. In seiner Doktorarbeit untersuchte er die Nachkriegszeit in der Region. Er erinnerte sich an einen Eintrag im Sterbebuch des Herzberger Standesamtes, in dem der Tod eines polnischen Zwangsarbeiters angezeigt wurde, Todesursache: Wirbelkörperbruch. Dazu der Vermerk: Angehörige nicht informiert. Mir selbst wurde mir die Einsicht der Sterbebücher verwehrt. Das Herzberger Stadt-Archiv erklärte, sie habe nachgeschaut und es gäbe keinen Eintrag.

6. Hinweis Nummer sechs kam aus den alten Bundesländern. Der Exil-Neunaundorfer Rainer Tanneberger erinnerte sich an Erzählungen seiner Mutter. Die Einheimische, der das Liebesverhältnis mit dem polnischen Zwangsarbeiter nachgesagt wurde, war eine Magd.

Als das Verhältnis entdeckt worden war, schnitt man ihr das Haar ab, trieb sie durch die Stadt Herzberg. Wenige Tage nach dem Telefongespräch erhielt ich eine E-Mail von Rainer Tanneberger. Im Anhang Fotos von einem Apfelbaum. Es war der Baum, der zur Richtstätte wurde, im Garten von ehemals Heino Oecknigk.

7. Hinweis: Ohne den Sterbeeintrag mit Todesursache blieb der Name des polnischen Zwangsarbeiters unklar.

Die letzte Hoffnung: das Sterbebuch der Friedhofsverwaltung. Gunter Reimschüssel und ich suchten zehn Minuten lang, dann lasen wir: Stanislaus Dyes, 39 Jahre, Pole, Todesursache: Wirbelkörperbruch, Eintritt des Todes: 7. Februar 1943 um 19.15 Uhr.

Auf dem "Soldatenhain" des Stadtfriedhofs befindet sich sein Grabstein. 

Er wurde an einem Sonntag, um 19 Uhr hingerichtet. Die Vollstreckung nach der Leiter der Kreis-Ordnungspolizei Karl D. höchstpersönlich vor. Ich telefonierte vor sechs Wochen mit dessen Tochter, die heute über neunzig Jahre alt ist. „Ach ja, unser Vater. Aller vier Jahre sind wir umgezogen. Bis wir in Herzberg ankamen. Da begann der Krieg und unser Vater durfte nicht in Rente gehen, obwohl er schon das Alter hatte.“ 1943, zum Zeitpunkt des Geschehens, war Karl D. etwa siebzig Jahre alt. Er wurde nach dem Einmarsch der Roten Armee abgeholt, nach Buchenwald gebracht, wo er 1949 in der Inhaftierung starb.

Im Archiv der evangelischen Kirchengemeinde in Jessen liegen die Weltkriegsjahrgänge des Schweinitzer Kreisblattes. Die Ausgaben vom nach dem 7. Februar 1943 sind die einzigen Zeitungsausgaben, die im gesamten 43-er Jahrgang fehlen. Warum?

Vor 73 Jahren wurde Stanislaus in Neunaundorf hingerichtet.

Seine Angehörigen wurden nie informiert. Standen nie an seinem Grab. Was hat seine Mutter in den Jahren der Ungewissheit empfunden?

Stanislaus war 39 Jahre alt. Hatte er in Polen eine Familie? Frau und Kinder? Kinder, die ohne Vater aufwuchsen? Wer war die deutsche Magd? Niemand gibt bis heute Auskunft. Wann hört das Schweigen auf? Hatte Stanislaus Liebschaft Folgen? Befindet sich sein Kind heute unter uns? Er oder sie wäre 73 Jahre alt. Mit Hilfe des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes versuche ich die Hinterbliebenen zu finden. 

 

Stephanie Kammer 

Die Geschichte von Stanislaus und der Deutschen Magd lesen Sie im neunen Heimatkalender!

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Kommentare: 1
  • #1

    Sebastian Hennig (Mittwoch, 04 Januar 2017 18:05)

    Wes wurde der Hingerichtete bezichtigt bzw. überführt? Es ist schwer vorstellbar, daß keiner der Befragten dazu ein wort verloren hat. Mich interessierte es schon.