Total bodenständig: Mit Gregor Gysi über Herzbergs Dächern

Eine Begegnung, auf die ich mit einem Lächeln zurückschaue


HERZBERG. „Herzlich willkommen. Sie sind direkt auf dem Dorf gelandet“. Als Gregor Gysi am Dienstag im Herzberger Ortsteil Grochwitz strandete, war alles anders. Er hatte hupende Staus und das Grundrauschen der Großstadt gegen die gellend lauten Balzrufe des Pfaus eingetauscht. Dazu sangen die Vögel zwischen Tierpark und Grochwitzer Teichen. Vielstimmig und hingebungsvoll wie immer. Esel und Affen quiekten vergnügt dazwischen. Für einen Moment wusste ich nicht genau, ob es schlau war, den Berlin-Liebhaber und Großstadt-Parlamentarier Gregor Gysi genau hier einquartiert zu haben.

Doch dann entdeckte ich dieses milde stille Lächeln auf seinem Gesicht. Eine Viertelstunde später spazierte mein Gesprächsgast des heutigen Tacheles-Abends allein, vergnügt und fotografierend durch den Tierpark. Ich hatte mich inzwischen mit dem netten Fahrer, der Gregor Gysi begleitet, gut unterhalten. Ich hörte heraus: Auftritte über Auftritte. Zwei wirklich fleißige Menschen, die viel unterwegs waren. Die sich in ihren Auftrittsorten umsahen und umhörten. Das überraschte mich ebenso, wie mein gesamter erster Eindruck von Gregor Gysi: ein in sich ruhender, sehr aufmerksamer Mensch.

Als wir im Bürgerzentrum ankamen, wartete dort ein randvoller Saal mit wild durchmischten Menschen unterschiedlichster Gesinnung. Wie würde unser Tacheles-Abend laufen? Meine Nervosität war groß. Nach wenigen Minuten war jedoch klar: Gregor Gysi kam, sah und siegte und zwar ohne dabei Luft zu holen. Dass Klarheit und Direktheit durchaus Hand in Hand gehen können mit Charme und Einfühlungsvermögen, das lernte ich gerade am Beispiel des Sechsundsiebzigjährigen. Wie liebevoll er seine Schwester, eine Schauspielerin, die die DDR gen Westen verlassen hatte, beschrieb („Sie schloss jeden dreibeinigen Hund ins Herz“). Wie er Witze und Späße über seinen Vater erzählte, um dessen Redetalent zu illustrieren. Wie er einen verbalen Kniefall vor den schweren Berufen der Landwirtschaft vollzog. Das war nicht nur der begnadete Redner Gysi, der mir gegenübersaß, sondern ein Mensch der abenteuerlustig und lebendig mit dem Publikum interagierte. 

Im zweiten Teil des Abends war die schwierige Weltlage Thema. Es gab dabei einen lauten Zwischenruf, irgendeine raue Ampel-Schmähung, die jedoch kaum Beachtung fand. Stattdessen hingen die gut 250 Zuhörenden an den Ausführungen Gregor Gysis über Israel und Palästina, über den aus seiner Sicht von keiner Seite zu gewinnenden Angriffskrieg Russlands und über den politischen Chauvinismus unserer westlichen Welt.

Bei aller Dramatik der aktuellen Probleme gelang es ihm, ein hohes Maß an Klarheit zu schaffen, ohne Komplexität und Tiefe der politischen Schieflagen zu verleugnen oder zu verschleiern.

 

Das war für mich ein Lehrstück. Als wir nach dem Gespräch noch am äußersten Stadtrand, im idyllischen Grochwitz, einen Absacker zu uns nahmen, durfte ich einen sehr ausgelassenen und fröhlichen Menschen Gregor Gysi erleben. Er erzählte und hörte zu. Ließ sich Herzberg und Elbe-Elster beschreiben, interessierte sich für viel Persönliches und berichtete von anderen Auftrittsorten und von Menschen, die ihm am Herzen lagen. Mit echter Überraschung stellte ich fest, dass sich dieser besondere Mensch, ein Langzeit-Parlamentarier und verdienter deutscher Politiker, für den Alltag der ganz normalen Leute interessierte. Aber mehr noch. Wir verabredeten uns, für eine Kirchen- und Stadtführung von oben. Am nächsten Morgen klingelte mein Handy. „Wir machen uns auf den Weg zur Kirche“, sagte da eine mir vertraute Stimme. Und wie so oft umarmte uns St.-Marien beim Eintreffen. Erhabene Orgelklänge im Kirchenschiff. Taubengurren und säuselnder Wind im inneren Kirchturm, unterbrochen vom Baby-Gekrächze hungriger Jungfalken. Zusammen genossen wir den Blick über die Dächer von Herzberg. Und da war es wieder. Dieses milde stille Lächeln eines Menschen, der so ganz in sich ruhte.

Stephanie Kammer 

Fotos: Christian Poser