Hoffnungsbrief

BücherKammer Adventskalendertürchen Nr. 24


Mond über St.-Marien am ersten Adventssonntag 2020
Mond über St.-Marien am ersten Adventssonntag 2020

Liebe Freunde der Weihnachtszeit,

Zum ersten Mal habe ich bei einem  Hoffnungswichteln mitgemacht. Eine komische Situation, denn jeder sollte einem Fremden schreiben, was ihm Hoffnung schenkt. Ich habe tagelang nachgedacht. Irgendwann ganz spät nach Mitternacht schrieb ich diesen Brief.

Erst jetzt verstehe ich den eigentlichen Sinn hinter dieser Wichtelaufgabe: Jeder Hoffnungsbriefschreiber war wohl auch selbst Adressat des Briefes und hat sich selbst vor Augen geführt, was ihm Hoffnung spendet. Eine schlaue Aktion! 

 

Das ist nun mein Hoffnungsbrief. Mit ihm wünsche ich euch ein gesegnetes Fest! Frohe Tage! Echte Hoffnung! Gesundheit und Wärme! 

 

Hoffnungsbrief

 

Hoffnung gibt mir eigentlich immer der Blick auf meine Kinder. Ich bin Mutter von vier Kindern. Vom gleichen Mann. Ja, wir sind seit zweiundzwanzig Jahren ein Paar und noch immer halten wir uns aus. Jedes Kind ist ein Gesamtkunstwerk geworden. Alle vier sehr verschieden. Fast unmöglich, dass sie von denselben Menschen abstammen! Von uns. Dass jedes meiner Kinder etwas ganz Eigenes mitgebracht hat, gibt mir Hoffnung, dass Veränderung möglich ist. Denn die haben wir nötig. Bitte liebe Kinder, werdet nicht wie wir Eltern, sondern lebt verantwortungsvoller auf unserem Planeten und geht fairer mit all seinen Bewohnern und Geschöpfen um. Das hoffe ich.

 

Hoffnung gibt mir auch immer der Blick auf meinen Mann. Er ist ein fleißiger Mensch. Klug und geschickt. Wenn er mir manchmal die Wahrheit ins Gesicht sagt, und ich sie gar nicht hören möchte, habe ich die Hoffnung, dass ich bis zu meinem letzten Atemzug dazulernen kann und werde. Das ist nicht immer angenehm, aber der einzige Weg, dieses Leben zu verstehen, seine Möglichkeiten zu entdecken, und es einmal zufrieden loslassen zu können.

 

Hoffnung gibt mir immer das Vertrauen anderer Menschen. Ich schreibe gern Interviews, nehme Gespräche auf oder erzähle Geschichten, die andere erlebt haben. Gerne biografische Geschichten. Wenn sich andere Menschen vor mir öffnen und mir vertrauen, fühle ich mich beschenkt und nahezu königlich. Das kann man nirgends kaufen. Das lässt sich nicht aus Filmen ziehen oder irgendwoher beschaffen. Vertrauen ist echt. Wenn jemand über sich erzählt, ohne sich zu schonen, dann gibt er etwas weiter, das wertvoll ist. Eine zwischenmenschliche Kostbarkeit. Da habe ich Hoffnung, dass nicht jeder alle Fehler selber machen muss. Da spüre ich, dass wir uns gegenseitig Rat und Beistand geben können. Verständnis obendrauf. Wärme womöglich auch noch, wenn man gemeinsam lacht, weint und mitfühlt. Könnte das vielleicht Glück sein?

 

Hoffnung gibt mir immer der Blick in die Vergangenheit. Wir Menschen leiden an unserem Menschsein. Seitdem wir den aufrechten Gang gelernt haben, sind wir vorangekommen und gleichzeitig keinen Schritt weiter. Unser Weg führte uns durch Kriege, Seuchen, Hungersnöte und anderes Elend. Vieles davon liegt hinter uns. Wir haben inzwischen eine hoch entwickelte Wissenschaft und unseren hohen Lebensstandard. Aber das Miteinander! Menschen, Nationen, Völker, Nachbarn, Freunde und Familien gehen sträflicher miteinander um, als es unsere behaarten, von Ast zu Ast springenden Vorfahren je taten. Und dennoch: Das Gute ist nie ganz ausgestorben. Ein paar Samenkörnchen haben immer in der Gegenwart ein fruchtbares Fleckchen finden können. Noch immer bringt unsere Menschensippe außergewöhnliche Geister hervor, die etwas bewegen, die vorangehen und Gutes bewirken. Die Hoffnung, dass wir Menschen über unser Menschsein hinauswachsen können, dass wir unsere Fehler einsehen und daraus lernen können, sodass etwas Besseres keimt und gedeiht und in der Zukunft größer wird, die habe ich.

 

Und Corona? Kann man in 2020 überhaupt mal eine Stunde gedanklich dem riesengroßen C über unseren Köpfen ausweichen? Nein. Unmöglich. Corona ist die Hoffnungskrise schlechthin. Corona teilt die Welt. Spaltet Gesellschaften, Parlamente, Freundeskreise und Familien. Corona tötet. Die, die schwächer sind, aber auch die, die sich stark fühlen. Corona demaskiert uns: Wie unglücklich wir eigentlich mit uns selbst sind, dann, wenn wir uns mit uns selbst beschäftigen müssen, wenn uns die Ablenkung von uns selbst fehlt. Während wir sonst doch so klar auf Selbstverwirklichung, Selbstvertrauen und Selbstständigkeit setzen. Corona zeigt uns unseren Selbstbetrug. Und darauf reagieren wir gekränkt. Kranken einzig und allein an uns selbst. Nicht an der Regierung, die alles verkehrt macht. Nicht an der Wissenschaft, die manipuliert wird. Nicht an geheimen Kräften, die unsere Welt kaputt machen wollen. Wir kranken an uns selbst und an niemand anderem!

Und die Lösung? Sie beginnt bei uns selbst. Mit der Hoffnung, dass wir aus unserem Ich-Selbstsein ein Wir-Selbstsein machen können.

Frohe Weihnachten!

 

Stephanie Kammer