Gedanken über Trauringe im Herzberger Rathaus, Selbstmorde aus Angst und einen Keller voller Kinderzeichnungen
Was bedeutet Freiheit? Ist sie ein Zustand, den man erreicht, wenn das Unrecht endet? Oder ist sie vielmehr ein Prozess, den wir täglich selbst mitgestalten – durch unser Denken, unser Reden, unser Handeln? Die Geschichten aus dem Herzberger Heimatkalender 2025 machen spürbar, wie komplex der Begriff „Befreiung“ sein kann – besonders im Mai 1945. Nachdem Menschen millionenfach nicht nur Freiheit sondern ihr Leben verloren, weil Deutschland einen mörderischen Krieg nach innen und außen geführt hatte.

„Ich stand da mit einer Hand voll Trauringen und einem Brief von meinem Vater.“

So erinnert sich Gertraude Hagemeister an die Tage nach dem Einmarsch der Roten Armee in Herzberg. Ihr Vater, Ewald Rosenbaum, war Kreisbüroinspektor. Er wurde wie viele andere Männer von sowjetischen Soldaten abgeholt – angeblich zur Überprüfung. Tatsächlich verschwanden sie in Speziallagern wie Mühlberg, Bautzen oder Jamlitz. Ewald Rosenbaum kehrte nie zurück, wurde umgebracht. Erst nach der Wiedervereinigung wurde er als Opfer politischer Verfolgung rehabilitiert.
Gertraude, damals ein junges Mädchen, gelang es, noch einmal ins Rathaus zu kommen. Dort drückten ihr gefangen genommene Herzberger ihre Eheringe in die Hand, im Wissen, dass sie ihre Familien nie wiedersehen würden. Das Trauma dieses Moments beschreibt sie im Heimatkalender 2025 mit eindrücklicher Schlichtheit.
Auf die Befreiung vom Nationalsozialismus - eines der verbrecherischsten Regimes der Weltgeschichte - folgte für viele eben kein Zeitalter der Freiheit, sondern ein neuer Albtraum. Die Angst blieb. Die Gewalt blieb. Die Sprachlosigkeit blieb.
„Sie hat in einer Woche 70–80 Selbstmörder beerdigen müssen.“

Auch dieser Satz stammt aus dem Heimatkalender. Er zitiert einen Tagebucheintrag des Pfarrers Ulrich Krückeberg über die dramatischen Tage im April und Mai 1945 in Schlieben, wo Pfarrvikarin Winterberg allein tagelang Suizidopfer in Massengräbern beerdigte. Auch die Stadt Herzberg war kurz zuvor Schauplatz sinnloser Zerstörung geworden: Brücken wurden gesprengt, Pläne zur Flutung der Stadt lagen auf dem Tisch. Radikale NS-Funktionäre wie Karl Strothbäumer versuchten, den Widerstand gegen die Rote Armee zu organisieren – um jeden Preis. Auch er brachte sich und seine Familie mit Hilfe einer Panzerfaust in der eigenen Wohnung (heute DRK-Gebäude im Nixweg) um.
Die Menschen wurden von Panik erfasst. Panik, die durch Hass und Hetze groß geworden ist. Ganze Familien sahen keinen Ausweg mehr und nahmen sich das Leben. Allein 573 dokumentierte Selbstmorde im Kreis Bad Liebenwerda – darunter 208 Kinder und Jugendliche (Sebastian Rick. Die Entwicklung der SED-Diktatur auf dem Lande ..., 2016). Auch das war Teil der sogenannten „Befreiung“. Auch das sind Tatsachen, die zeigen, wie kurz Opfer-Täter-Kategorien oft greifen.
Ein Krümel Freiheit

Trotz der Tragik dieser Geschichten erkenne ich heute darin einen kleinen Moment von Freiheit. Wir reden darüber. Es darf erinnert, gefragt und sogar bezweifelt werden. Jahrzehntelang wurde geschwiegen.
Inzwischen stehen die Erlebnisse von Zeitzeugen wie Gertraude Hagemeister im Heimatkalender 2025 – öffentlich, greifbar, ehrlich.
Erinnerung ist unbequem. Aber sie ist notwendig. Und sie zwingt uns, zu entscheiden: Wie wollen wir leben – in Freiheit oder in Angst?
Timothy Snyder und die Gegenwart der Geschichte
Vor wenigen Tagen las ich einen aktuellen Bericht von Timothy Snyder, dem bekannten US-amerikanischen Historiker und Yale-Professor, der jetzt die USA endgültig verlassen hat. Snyder besucht regelmäßig die Ukraine, er erforscht dort die Verbrechen der Gegenwart – und die Mechanismen von Unfreiheit.
Er schildert seinen Besuch in einer Schule in einem vom russischen Militär zuvor besetzten ukrainischen Gebiet. In dem nur 100 Quadratmeter großen Keller der Schule hatten russische Truppen ein provisorisches Internierungslager eingerichtet – über 200 Menschen, darunter rund 100 Kinder, wurden dort wochenlang zusammengepfercht. An die Wände hatten die Gefangenen Namen geschrieben: Links neben der Tür die 17 Erschossenen. Rechts die zehn, die an Hunger oder Krankheit im Keller starben. Dazwischen Kinderzeichnungen (Quelle: Timothy Snyder, Über Freiheit, 2024). Das ist kein Rückblick. Das ist Gegenwart. Freiheit stirbt nicht in einem Moment – sie stirbt in der Gleichgültigkeit. Und genau hier, machen wir uns mitschuldig, wenn wir wegsehen.
Der 8. Mai ist kein Tag zum Feiern
Befreiung lässt sich nicht feiern – weil sie nie nur Licht bringt. Sie bringt neue Fragen, neue Narben, neue Verantwortung. Im Osten Deutschlands mündete sie in erneute Tyrannei. Der 8. Mai ist zumindest ein guter Tag zum Innehalten. Zum Nachdenken darüber, wie wir leben wollen. Freiheit ist kein Geschenk. Sie ist ein tägliches Ringen – und nicht selten ein Wagnis unklaren Ausgangs.
Ich selbst bin dankbar für die letzten 35 Jahre in Freiheit. Und ich habe Angst, dass dieses Glück meinen Kindern vielleicht nicht mehr zuteil wird.
Was können wir tun?
Doch wir haben heute etwas in der Hand, das andere nicht hatten: Worte. Erinnerung. Bewusstsein. Wir können widersprechen, aufklären, gestalten. Wir können mutig sein – im Kleinen wie im Großen.
Denn Freiheit beginnt nicht mit dem Ende von Gewalt. Sie beginnt mit dem Mut, nicht zu schweigen.
Stephanie Kammer